Zur sozioreligiösen Relevanz der Kirchenmusik Auswertung einer EKD-Studie

Wahrnehmungen und Einsichten aus der Kirchenmusik-Studie der Ev. Kirche in Mitteldeutschland und der Ev. Arbeitsstelle midi im Rahmen der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD (KMU).

Laut kirchenamtlicher Statistik der EKD haben vor der Pandemie rund 7,4 Millionen Menschen pro Jahr 66.000 kirchenmusikalische Veranstaltungen außerhalb des Gottesdienstes besucht. Im Jahr 2021 waren 347.000 Menschen in 24.288 kirchenmusikalischen Gruppen EKD-weit aktiv. Gute Gründe also, das Feld der Kirchenmusik außerhalb des gottesdienstlichen Geschehens in den Blick zu nehmen. Das Begleitforschungsprojekt „Kirchenmusik-Studie“ der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und der Ev. Arbeitsstelle midi hat dieses Feld kirchlichen Lebens untersucht. Hierzu wurden zwischen Oktober und Dezember 2022 die Aktiven in den kirchenmusikalischen Gruppen in der Ev. Kirche in Mitteldeutschland befragt, ebenso die Chorleitenden und zudem in neun ausgewählten Kirchenkreisen die Teilnehmenden von kirchenmusikalischen Gruppen.

Zentrales Ergebnis der Kirchenmusik-Studie: Die soziale Reichweite kirchlichen Handelns, exemplarisch im kirchenmusikalischen Feld, reicht deutlich weiter als die Befunde der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zur kirchlichen Religiosität und kirchlich-religiösen Reichweite vermuten lassen. Zudem hat die Kirchenmusik sozioreligiöse Relevanz. Das heißt, dass durch die Musik resp. den Konzertbesuch implizit Religiosität erlebt und zugleich gedeutet wird.

Kirchenmusik begeistert und schafft Gemeinschaft und Geselligkeit

Freude am Musizieren als Ausdruck einer Begeisterung trifft auf fast alle Aktiven in den kirchenmusikalischen Gruppen der EKM zu. Darüber steht im Vordergrund der intrinsischen Motivlage von Aktiven, „gemeinsam mit anderen etwas zu machen“. Auch spielt das Moment der Homophilie, also dass man die Leute in der kirchenmusikalischen Gruppe mag und Gleichgesinnte antrifft, eine große Rolle. Nicht zu unterschätzen ist der Aspekt der Geselligkeit. So wird die Atmosphäre in der kirchenmusikalischen Gruppe bereits mehrheitlich als gesellig eingestuft und der Geselligkeit nach den Proben ein hoher Stellenwert eingeräumt, ebenfalls den gemeinsamen Aktivitäten in der Kirchengemeinde, also außerhalb der kirchenmusikalischen Gruppenaktivität. Vor dem Hintergrund, dass Kirchlichkeit und Religiosität originär auf gemeinschaftliches Erleben angewiesen sind, kommt der Kirchenmusik hier eine wichtige Bedeutung zu. Vielfach kann man den Eindruck gewinnen, dass bisher diese Potentiale der Kirchenmusik, insbesondere außerhalb des Singens und Musizierens im Gottesdienst, nur in geringem Umfang gewürdigt und noch nicht vollumfänglich mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit der Kirche erfasst wurden.

Das Rückgrat kirchenmusikalischer Arbeit: Frauen – mittlere Altersgruppen – langjährige Leidenschaft

Die Kirchenmusik-Studie der EKM hat einmal mehr unterstrichen, dass das kirchliche Engagement weiblich geprägt ist. Dies trifft auch auf die Aktiven in kirchenmusikalischen Gruppen zu, die mehrheitlich weiblich sind. Darüber hinaus erfreulich ist, dass das Geschlechterverhältnis bei den Chorleitenden nahezu je zur Hälfte ausgeglichen ist. Darüber hinaus trifft auf die Aktiven wie die Chorleitenden zu, dass diese mehrheitlich von der Altersgruppe der 50-59-Jährigen und 60-69-Jährigen getragen wird. Für die kommenden zehn Jahre sind damit bereits die Herausforderungen impliziert: eine Nachwuchsgewinnung und -förderung von Kirchenmusiker:innen und Aktiven für die kirchenmusikalischen Gruppen.

Erfreulich bei den Aktiven und Chorleitenden ist die langjährige Leidenschaft, mit der sie ihr Engagement bzw. ihre Tätigkeit betreiben. Kirchenmusik ist für Aktive und Chorleitende ganz offensichtlich eine Herzensangelegenheit, vielfach eine Lebensaufgabe und nicht selten ein stabilisierender Faktor im Alltag.

Kirchenmusik: Parochialer Anker kirchlichen Lebens

Dass Kirchenmusik einen prominenten Stellenwert in der kirchlichen Praxis vor Ort hat, zeigt sich schon an der vielfältigen musikalischen Mitgestaltung im Kirchenjahr, ob im Gottesdienst oder bei konzertanten Aufführungen außerhalb des Gottesdienstes. Entsprechend stufen sowohl die Aktiven als auch Chorleitenden die Mitwirkung bei Gottesdiensten und die Konzertaufführungen als sehr bedeutsam mit Blick auf die kirchenmusikalischen Aktivitäten der Gruppe ein.

Hohe Reichweite

Blickt man auf die Verhältnisbestimmung der kirchenmusikalischen Gruppe zur Kirchengemeinde und zu anderen kirchlichen Gruppen, lässt sich festhalten, dass diese als ausgesprochen gut bezeichnet werden kann. Kirchenmusik als eine wesentliche Säule kirchlichen Lebens trägt nachweislich zu einem guten Miteinander im gemeindlichen Kontext bei. Auch das ausgezeichnete Miteinander dezidiert mit Gottesdienstverantwortlichen unterstreicht dies, sowie die subjektive Einschätzung von Aktiven und Chorleitenden, dass die kirchenmusikalische Gruppe die aktivste Gruppe in der Gemeinde ist.

Sozialräumliche Relevanz des kirchenmusikalischen Engagements

Für die Aktiven in kirchenmusikalischen Gruppen ist mit Blick auf ihr kirchenmusikalisches Engagement das sozialräumliche Motiv nicht unerheblich. Jeweils zwei Drittel der Aktiven geben an, dass ihnen daran gelegen sei, das Gemeindeleben aktiv mitzugestalten bzw. das örtliche Leben kulturell zu bereichern. Entsprechend korrespondieren auch die Befunde hinsichtlich der Bedeutsamkeit der Aktivitäten, hier insbesondere die hohen Zustimmungswerte zu Auftritten an anderen Orten oder regionalen kirchenmusikalischen Veranstaltungen. Nicht unerheblich ist auch mit 39,2% der Anteil derjenigen Aktiven, die sich über das kirchenmusikalische Engagement ehrenamtlich engagieren.

Beitrag zur Mitgliederbindung und Mitgliederorientierung

Die Mehrheit der Aktiven in kirchenmusikalischen Gruppen, der Chorleitenden und auch der Teilnehmenden von kirchenmusikalischen Veranstaltungen sind evangelische Kirchenmitglieder. Zudem fühlt sich die Mehrheit jeweils der Kirche solid-fluide verbunden. Insofern trägt die Kirchenmusik maßgeblich zur Mitgliederbindung und Mitgliederorientierung bei. Einen weiteren Indikator diesbezüglich stellt bei den Aktiven der Kirchgang dar, der bei diesen im Vergleich zur aktuellen 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung um ein Vielfaches höher ausfällt, was den wöchentlichen, monatlichen oder mehrmals jährlichen Besuch von Gottesdiensten betrifft. Darüber hinaus zeichnet sich das kirchenmusikalische Engagement durch wöchentliche Proben, regelmäßige Konzerte oder Probewochenenden und geselliges Miteinander aus.

Potentiale für Kontaktpflege zu kirchenfernen Menschen

Ergänzend dazu, dass die Kirchenmusik einen wichtigen Beitrag zur Mitgliederbindung und -orientierung leistet, sind die Potentiale für eine Kontaktpflege zu kirchenfernen Menschen nicht gering zu achten. So geben 12% der Aktiven an, konfessionslos zu sein, und 21,8% der Teilnehmenden kirchenmusikalischer Veranstaltungen. Ebenfalls geben rund 10% der Aktiven an, seltener als einmal im Jahr den Gottesdienst zu besuchen. Bei den Teilnehmenden von kirchenmusikalischen Veranstaltungen korrespondiert in ähnlicher Ausprägung diesbezüglich der Befund, dass rund 12% angeben, kaum religiös oder spirituell zu sein, bzw. 5% verneinen dies ganz. Zudem erreichen kirchenmusikalische Veranstaltungen rund 40% Gelegenheitsbesuchende und immerhin für 1% der Teilnehmenden war es eine Premiere, eine kirchenmusikalische Veranstaltung besucht zu haben. Offenbar schafft Kirchenmusik punktuell Kontaktflächen für Menschen, die der Kirche eher fern oder distanziert gegenüberstehen.

Kirchenmusik als sozioreligiöse Praxis

Zunächst gilt es festzuhalten, dass Aktive und Chorleitende es für bedeutsam erachten, dass die kirchenmusikalische Gruppe eine lange und eindrucksvolle Tradition fortsetzt. Die Aktiven geben darüber hinaus mit überproportional hoher Zustimmung an, dass das kirchenmusikalische Engagement sie mit der christlichen Tradition verbindet. Kirchenmusik trägt also zur Verstetigung eines christlichen Traditionsschatzes nachweislich bei.

Schon die Befunde zur Kirchlichkeit, Religiosität und Verbundenheit der Aktiven, Chorleitenden und Teilnehmenden haben deutlich gemacht, wie prägend diese Faktoren sind. Wie ein roter Faden zieht sich zudem durch die Befragungen, dass die Kirchenmusik als sozioreligiöse Praxis aufzufassen ist und erst dadurch ihre implizite Tiefenwirkung entfaltet.

Lebenslange Herzensangelegenheit

Bei den Aktiven unterstreichen dies vor allem die Befunde, dass „es für mich eine Form ist, meinen Glauben auszudrücken“, „es eine Form ist, in der ich Gott erfahre“ oder sogar, dass „es für mich eine Form intensiver religiöser Erfahrung ist“, die mit dem kirchenmusikalischen Engagement in besonderer Weise einhergehen und explizit die sozioreligiöse Relevanz des kirchenmusikalischen Engagements ausdrücken. Ebenso gilt dies für den Befund, dass zwei Drittel der Aktiven als Grund für ihr Engagement angeben, dies „zum Lobe Gottes“ zu tun. Es verwundert deshalb nicht, dass die Mehrheit der Aktiven der Aussage zustimmt, dass durch das kirchenmusikalische Engagement die Verbundenheit mit der Kirche stärker geworden sei.

Es ist zu vermuten, dass die geistlichen Elemente bei Proben der kirchenmusikalischen Gruppen einen gewissen Anteil an der sozioreligiösen Relevanz der Aktiven haben.

Bei den Teilnehmenden von kirchenmusikalischen Veranstaltungen ist es das subjektive Erleben, dass die Veranstaltung inspirierend, sehr berührend, spirituell erfüllend war und sich die Teilnehmenden näher bei Gott gefühlt haben, die explizit die sozioreligiöse Relevanz der Kirchenmusik unterstreichen.

Zusammenfassung und Ausblick

Die Kirchenmusik-Studie der EKM hat eindrücklich aufgezeigt, dass Kirchenmusik eine sozio-religiöse Relevanz besitzt, dass das Soziale der kirchenmusikalischen Gruppe nämlich zum Raum, Anlass und Gegenstand religiösen Erlebens und Deutens wird. Es wäre für die Zukunft wünschenswert, wenn die sozioreligiöse Praxis auch in anderen kirchlichen Feldern verstärkt in den Blick kommen würde und die Kirchenmusik-Studie so zur Patin eines Perspektivwechsels bei der Wahrnehmung kirchlich-religiöser Praxis werden würde.

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