Musik als Therapie

Dass Musik eine große, verbindende und heilsame Kraft innewohnt, war Menschen lange schon bewusst. Dass sich Musik jedoch gezielt therapeutisch einsetzen lässt und zur Behandlung körperlicher und seelischer Leiden erfolgreich beiträgt, wird durch die Forschung bestätigt.

Musik als Vermittlerin

„Musik ist die Vermittlung des Geistlichen zum Sinnlichen“. Mit diesem Zitat der romantischen Schriftstellerin Bettina von Arnim lässt sich ein Beitrag zur Bedeutung der Musik in der Therapie gut einleiten. Bedarf es doch in jeder Therapie einer Vermittlung; zu Beginn einer Behandlung muss die Behandelnde verstehen, was das Leiden der Patientin ausmacht; vielleicht muss die Therapeutin ergründen, worin das Leiden seine Ursache hat.

Diese Vermittlung ist auch unerlässlich, wenn es um seelische Leiden geht. Normalerweise bedienen wir uns der Sprache als Vermittler. Was aber, wenn wir unsere Gefühle gar nicht in Worte fassen können?

Was für das Leiden gilt, gilt ebenso für andere elementare tiefe Gefühle: Freude, Dankbarkeit, Liebe und auch für den Glauben. Was wir im Seelischen erleben oder im Geist formulieren, aber eben nicht sagen können, können wir mit Hilfe des künstlerischen Ausdrucks in die sinnliche Welt transferieren – und so auch für andere Menschen zugänglich machen. Zeugnis davon geben zahlreiche Kunstwerke in Museen; Bilder, Skulpturen und auch die Architektur.

Im Gegensatz zu den bildenden Künsten, wo sich die Schaffenden und die Betrachtenden im vollendeten Werk, etwa einem Gemälde oder einer Plastik, begegnen, oder zur Literatur, die den Lesenden zum Mitvollzug einlädt, nimmt die Musik eine Sonderstellung ein: Für die Hörenden war sie über Jahrhunderte – wenn nicht Jahrtausende – ausschließlich gleichzeitig mit den Schaffenden in einem synchronen Prozess erlebbar. Vor der Zeit der Tonträger bedurfte es der unmittelbaren Begegnung der Musizierenden mit den Hörenden. Aber waren es immer nur Zuhörende? Liegt nicht im Hören schon ein Mitvollzug, ein Mitschaffen der erklingenden Musik? Gut zu beleuchten ist diese Transzendenz am Beispiel des gemeinsamen Singens, z.B. während eines Gottesdienstes, oder auch beim gemeinsamen geselligen Singen. Ohne instrumentale Voraussetzungen wird im gemeinsamen Singen die Grenze zwischen Künstler:innen und Zuhörenden aufgelöst: Egal ob ich laut singe, summe oder ob ich stumm, nur innerlich ein Lied mitsinge.

Liegt nicht im Hören schon ein Mitvollzug, ein Mitschaffen der erklingenden Musik?

Hierin liegt die Besonderheit der Musik: Sie schafft Gemeinsamkeit, sie vereint uns in einem Klang. Gerade dieses Potenzial der Musik, in der Gemeinschaft zu entstehen oder sogar eine Gemeinschaft erst zu bilden, macht sie zu einer wertvollen Vermittlerin.

Die Anfänge der Musiktherapie und ihr Einsatz bei neurologischen Erkrankungen

Ihren Ursprung hat die moderne Musiktherapie, also der gezielte Einsatz von Musik in der Behandlung von Erkrankungen oder seelischen Leidenszusammenhängen im medizinischen Kontext, in den Beobachtungen und Erfahrungen während und nach dem ersten Weltkrieg. So gab es viele Veteranen, die mit schweren Traumatisierungen die Bombardierungen in den Schützengräben zwar überlebt hatten, aber im damaligen deutschen Sprachgebrauch als Kriegszitterer, im Englischen als bomb shell victims heimkehrten. Sie waren so schwer traumatisiert, dass sie die Kontrolle über ihre willkürliche Motorik verloren hatten, zum Teil nicht mehr gehen oder stehen konnten. Filmdokumentationen der Symptomatik und der Behandlung zeigen Veränderungen, die unter anderem dadurch erreicht wurden, dass die Betroffenen gesungen oder sich zu Musik bewegt haben.

Diese Filmdokumente, die man auch bei YouTube finden kann, stellen den Beginn der systematischen Beobachtung des therapeutischen Einsatzes der Musik dar. Bis heute sind neurologische Erkrankungen ein wichtiges Einsatzfeld der Musiktherapie. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden aus den systematischen Beobachtungen prospektiv angelegte Studien, welche die Effekte der Musiktherapie belegen, die sich bis heute zu einem eigenständigen Berufsfeld entwickelt hat. Auch heute profitieren Menschen davon, die z.B. aufgrund von Parkinson-Erkrankungen oder Schlaganfällen Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit erleben.

Was aber, wenn das Leiden nicht sichtbar ist, sondern sich zum Beispiel in einem Verlust der Sprachfähigkeit manifestiert? Wie oben beschrieben, bietet Musik hier einzigartige Möglichkeiten, soziales Miteinander zu erleben und zu fördern, auf Instrumenten improvisierend gemeinsam Musik zu schaffen. Musik ist dabei kein Ersatz für die Sprache, sondern entfaltet ihre Wirkung im Miteinander, in der Synchronisation. Die Sprachentwicklung von Kleinstkindern ist bis zur abstrakten Wortbildung mit musikalischen Elementen zu beschreiben. Die wesentlichen Ausdrucksmerkmale von Sprache, die sogenannte Prosodie (Lautstärke, Tempo, Rhythmus und Sprachmelodie), sind ›musikalische‹ Elemente. Sie leben in der Sprache, im Sprechen fort, auch wenn sich die Worte, die Grammatik und die Syntax gebildet haben. Sie gehen nicht verloren, auch wenn die Wortbildung oder das Erinnern von konkreten Worten erschwert ist. In der Rehabilitation bei Sprachverlust kann Musiktherapie deshalb ebenso erfolgversprechend zum Einsatz kommen wie bei der Sprachanbahnung von Kindern, die Entwicklungsverzögerungen haben.

Musik bietet einzigartige Möglichkeiten, soziales Miteinander zu erleben und zu fördern.

Von hier aus ist die Brücke zum seelischen Leiden gut zu schlagen, denn die Isolation, die Patienten oder Kinder mit Spracheinschränkungen durchleben, führt immer auch zu Problemen im Wohlbefinden oder im Verhalten. Rückzug, reaktive depressive Episoden oder Verhaltensstörungen sind nicht selten die Folge.

Bedeutung der Musiktherapie bei psychischen Erkrankungen

So werde ich die Begegnungen mit einer Patientin, die nach der Operation eines Hirntumors ihre Sprache verloren hatte und einseitig gelähmt war, nicht vergessen. Wegen ihrer Depression wurde sie zur Musiktherapie bei mir überwiesen. Auf der Station war sie missmutig bis aggressiv, verweigerte das Essen und reagierte auf Hilfestellungen heftig ablehnend, nicht selten begleitet von intensivem Schreien. Ich fuhr sie im Rollstuhl in den Musiktherapieraum; zusammengesunken und nicht ansprechbar murmelte sie in einem gleichförmigen Singsang leise vor sich hin und wirkte abwesend und passiv. Als wir durch die Tür des Musikzimmers kamen und sie den Flügel sah, richtete sie sich auf, lächelte und sang: „jam pam pam, pam pam pahh pahh.“ Gut war die Melodie der Forelle von Schubert zu erkennen. Die Töne klangen sauber und klar, der Rhythmus war prägnant: kurz, kurz, kurz, kurz, lang, lang, deutlich mit einem Grundtempo versehen. Ich setzte mich an den Flügel und spielte in ihrer Tonart zunächst die Melodie weiter und begleitete sie in einem zweiten Durchgang. Fest und klar klang ihre Stimme – und sie sang das ganze Lied. Als ich sie nach der Sitzung fragte, ob ihr denn gefallen habe, was wir miteinander gemacht haben? Da sagte sie verständlich und deutlich: „Ja.“ In die nächste Sitzung brachte ich dann die Noten des Schubertliedes mit und wir sangen es gemeinsam (ohne Text). Ich schlug vor, das Volkslied Du, Du liegst mir im Herzen zu singen und begeistert sang sie im aufgeteilten Text „ja, ja, ja, ja“ und ließ mich weiter singen. In Gesangs- und Instrumentalimprovisationen weiteten sich ihre Fähigkeiten immer mehr. Ermutigt und motiviert, Fragen mit Ja und Nein beantwortend, konnte sie in die Reha-Klinik verlegt werden.

Was an diesem Beispiel deutlich wird, haben die Musiktherapiepioniere Paul Nordoff und Clive Robbins 1975 so beschrieben: Musik wird im gemeinsamen Improvisieren zu einer Sphäre der Erfahrung, zu einem Mittel der zwischenmenschlichen Kommunikation, und zu einer Basis für Aktivität, in der (Patienten) Freiheit finden von jenen Fehlfunktionen, die sonst ihr tägliches Leben einschränken.

Als Therapie bewährt sich Musik – in den Händen von ausgebildeten Musiktherapeut:innen – bei Kindern mit Entwicklungsverzögerungen, bei Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen, Traumata oder Fluchterfahrung. Bei Frühgeburten wird sie für Kinder und Eltern wirksam und kann, lange bevor sie zur Einzeltherapie für die Erkrankten wird, z.B. bei Demenzbetroffenen und deren Familien stützend und begleitend eingesetzt werden. „In dem Maße, in dem es gelingt, einen bedeutsamen Kontakt zu stiften, ein Experimentierfeld für hingebungsvolles Handeln zu schaffen zur persönlichen Entwicklung, oder zur individuellen und sozialen Integration beizutragen, wird Musik zur Musiktherapie“, sagen wiederum Nordoff und Robbins.

Mittlerweile hat sich die Musiktherapie seit über 50 Jahren in der klinischen Praxis bewährt, seit mehr als 30 Jahren beschreiben Forschungsarbeiten ihre Wirkung und belegen ihre Wirksamkeit. Deshalb ist es lange an der Zeit, dass auch der seit 1992 bestehende Finanzierungsausschluss revidiert wird, damit Menschen in besonderen Lebenssituationen, Menschen, die sprachlich oder intellektuell eingeschränkt sind, die unsagbares Leid erleben durch körperliche oder seelische Erkrankungen, einen ungehinderten Zugang zu dieser Therapieform erhalten.

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